
Der Mond gilt als Symbol der Einsamkeit und der Kontemplation. Er ist puree Schönheit. Ein einzelner Mensch, der in der Nacht den Mond betrachtet, das kommt oft im Haiku vor. Kein Wunder, denn eine solche Szene erzeugt ein Gefühl von Ruhe und Frieden. Die Betrachtung des Mondes verbindet uns mit der Natur und dem Kosmos.
Symbolik des Mondes im Haiku
Im Haiku symbolisiert der Mond (tsuki) die Vergänglichkeit des Lebens. Ein japanisches Konzept, das als „mono no aware“ bekannt ist – die emotionale Empfindung für die Vergänglichkeit aller Dinge. Der Mond durchläuft Phasen und zeigt uns stets ein anderes Gesicht. Dieses Gefühl der Veränderung ist im klassischen Haiku zentral. Schließlich handelt es sich bei diesen Gedichten immer um Momentaufnahmen.
Auch Matsuo Basho, der Urvater des Haiku, kam an dem Himmelskörper nicht vorbei. Bashos Gedichte sind so reduziert, dass sie leicht als einfach missverstanden werden. Doch hinter ihrer Schlichtheit stecken tiefgründige Beobachtungen und geschickte Mehrdeutigkeiten.
Matsuo Basho (1644–1694) gilt als einer der größten Dichter Japans und Meister des Haiku. Er führte ein einfaches Leben und fand Inspiration in der Natur und im Alltag. Seine Gedichte fassen das Vergängliche und das Ewige in wenigen Worten und machten das Haiku zu einer eigenständigen Kunstform. Seine Haiku verbinden die menschliche Erfahrung mit der Schönheit der Natur. In ihnen lässt sich die Tiefe und Bedeutung flüchtiger Momente finden – ein Vermächtnis, das ihn bis heute weltweit bekannt und beliebt macht. Siehe auch: Haiku-Legenden: 10 Meister der kurzen Form
Hier ist eine Auswahl von Bashos besten Haiku, die den Mond zum Thema haben
tsuki hana no / kore ya makoto no / aruji tachi
Der Mond, die Blumen –
sie sind wohl die wahren
Meister.
Hier erkennt man seine Bescheidenheit und seine tiefe Verbundenheit zur Natur. Während die Menschen ihn als großen Dichter verehren, erinnert er sich daran, dass die wahre Meisterschaft in den einfachen, zeitlosen Erscheinungen der Natur liegt.
名月や池をめぐりて夜もすがら
meigetsu ya / ike o megurite / yomosugara
Herbstvollmond –
um den Teich wandernd,
die ganze Nacht.
Ob als Symbol für den Herbst, als Ausdruck von Einsamkeit und Sehnsucht oder als Moment der Schönheit – der Mond bleibt ein zentrales Element, das die Essenz des Haiku einfängt: die feine Kunst, die Schönheit im Alltäglichen und die Tiefe in der Flüchtigkeit zu finden.
名月や門に指し来る潮頭
meigetsu ya / mon ni sashikuru / shio gashira
Herbstvollmond –
bis ans Tor hebt sich
die steigende Flut.
Die Position von Bashos Hütte nahe der Mündung des Sumida-Flusses spielt eine Rolle in der Interpretation. Hier wird der Herbstmond mit dem Kommen der Flut verbunden, ein natürlicher Kreislauf, der die Zeit und den Ort in ein harmonisches Ganzes bringt.

名月の出づるや五十一ヶ条
meigetsu no / izuru ya goyu / ichi kajo
Herbstvollmond –
er erhebt sich über
die 51 Gesetze.
Die 51 Gesetze könnten auf das Regelwerk eines Feudalherren anspielen und stehen hier symbolisch für menschliche Ordnung und Kontrolle. Der Mond, ein Symbol für Ewigkeit und universelle Harmonie, bleibt unberührt von den Gesetzen der Menschen. Diese können noch so umfassend oder durchdacht sein, sie gelten nur auf der Erde. Der Mond steht für eine übergeordnete Realität, die nicht von menschlichen Regeln beeinflusst wird.
芋の葉や月待つ里の焼畑
imo no ha ya / tsuki matsu sato no / yaki-batake
Süßkartoffelblätter –
auf den Mond warten,
am Dorf verbrannte Felder.
Wahrschein sind Süßkartoffelblätter gemeint, da Süßkartoffeln in Japan traditionell angebaut und gegessen wurden, insbesondere in ländlichen Gebieten. Die uns vertrauten Kartoffeln waren zur Zeit von Basho (1644–1694) in Japan weitgehend unbekannt, da sie erst später aus Europa eingeführt wurden und nicht zur klassischen japanischen Landwirtschaft gehörten.
しばらくは花の上なる月夜かな
shibaraku wa / hana no ue naru / tsukiyo kana
Für eine Weile
über den Blumen –
Mondnacht!
Herrlich schlicht! Es bleibt offen, ob der Mond „schwebt“, „hängt“ oder einfach nur über den Blumen präsent ist, was die Stimmung des Haiku deutlicher einfängt. Die Kürze betont die Flüchtigkeit und die Poesie des Augenblicks. Der Mond bleibt ein stiller Beobachter, und der Moment wirkt wie ein zartes Gleichgewicht zwischen Präsenz und Vergänglichkeit.
月ぞしるべこなたへ入らせ旅の宿
tsuki zo shirube / konata e irase / tabi no yado
Der Mond leitet dich –
komm, tritt ein,
in die Herberge!
義仲の寝覚めの山か月悲し
Yoshinaka no / nezame no yama ka / tsuki kanashi
Yoshinakas
Berg des Erwachens –
ein trauriger Mond?
Minamoto no Yoshinaka (1154–1184) war ein prominenter Militärführer während der Heian-Zeit in Japan. Er spielte eine Schlüsselrolle in den Kämpfen des Genpei-Krieges, einem Machtkampf zwischen den Clans Minamoto und Taira, der schließlich zur Gründung des Kamakura-Shogunats führte. Yoshinaka wird oft als tragische Figur dargestellt. Nur falls du fragen wolltest …
Der Berg des Erwachens ist ein symbolischer Ort in der japanischen Literatur und Poesie. Er wird häufig mit Reflexion und Trauer in Verbindung gebracht, oft in Zusammenhang mit dem Erwachen aus einem Traum, der Vergänglichkeit des Lebens oder einer plötzlichen Einsicht in die Realität.
柴の戸の月やそのまま阿弥陀坊
shiba no to no / tsuki ya sono mama / Amida bo
Die Reisighütte –
der Mond wie immer,
Amida-Mönch.
Amida bezieht sich auf den Amitabha-Buddha, der in der buddhistischen Tradition als Buddha des unermesslichen Lichts und Lebens verehrt wird. Im japanischen Buddhismus, insbesondere in der Jodo-Schule, spielt Amida eine wichtige Rolle, da er derjenige ist, der Gläubige ins Reine Land (Jodo) geleitet, einen Ort der Erlösung und Erleuchtung.
夏の月御油より出でて赤坂や
natsu no tsuki / Goyu yori idete / Akasaka ya
Sommermond –
von Goyu kommend,
geht er über Akasaka auf!
Die Tokaido-Straße war eine der fünf Hauptstraßen (Gokaido) des alten Japans und verband Edo (das heutige Tokio) mit Kyoto. Sie ´war bedeutend für den Handel, die Kommunikation und als Pilgerweg. Entlang der Straße gab es 53 Poststationen, die Reisenden als Rastplätze dienten. Goyu war die 35. Poststation, bekannt für ihre belebten Gasthäuser und als Ort, an dem Reisende nach einer langen Strecke Ruhe fanden. Akasaka, die 36. Poststation, lag in der Nähe von Goyu. Sie war kleiner, aber für ihre traditionelle Gastfreundschaft und ihre Nähe zu landschaftlich reizvollen Hügeln bekannt.

月はやし梢は雨を持ちながら
tsuki hayashi / kozue wa ame o / mochi nagara
Der Mond ist schnell –
noch halten die Baumkronen
den Regen.
月澄むや狐こはがる児の供
tsuki sumu ya / kitsune kowagaru / chigo no tomo
Der Mond ist klar –
Knaben mit ihren Begleitern,
erschrecken vor einem Fuchs.
Im japanischen Buddhismus der damaligen Zeit waren junge Novizen (chigo) nicht nur Schüler, sondern standen oft in engen Beziehungen zu älteren Mönchen, die auch eine sexuelle Dimension haben konnten. Diese Verbindungen wurden damals kulturell akzeptiert und waren in den Klöstern Teil der sozialen Struktur. Der Fuchs (kitsune) ist ein Wesen, das in der japanischen Folklore als listig und magisch gilt.
月のみか雨に相撲もなかりけり
tsuki nomi ka / ame ni sumo mo / nakari keri
Es gibt keinen Mond –
und des Regens wegen
auch kein Sumo.
名月に麓の霧や田の曇り
meigetsu ni / fumoto no kiri ya / ta no kumori
Herbstvollmond –
am Fuß des Berges Nebel,
über den Reisfeldern Dunst.
月見ても物足らはずや須磨の夏
tsuki mite mo / mono tara wazu ya / Suma no natsu
Den Mond zu betrachten,
es genügt nicht –
Sommer in Suma.
Die Betrachtung des Mondes, normalerweise eine Quelle der Ruhe und Inspiration, reicht hier nicht aus, um eine innere Sehnsucht oder Unzufriedenheit zu stillen. Der Sommer in Suma, mit seiner melancholischen und literarischen Resonanz, verstärkt das Gefühl des Unerfüllten.
tsuki shiroki / shiwasu wa Shiro ga / nezame kana
Weißer Mond –
im Dezember erwacht Shiro
aus seinem Schlaf.
Shiro ist ein nicht nher bezeichneter Ort, auch eine Person kann gemeint sein. Das Haiku spielt mit Kontrasten – zwischen der Kälte des weißen Mondes und der Wärme des Erwachens, zwischen der Stille der Natur und der Geschäftigkeit des Dezembers.
tsuki shiro ya / hiza ni te o oku / yoi no yado
Weißer Mond –
die Hände an den Knien,
die Nacht ist still.
Die Hände an den Knien bedeuten eine Meditationshaltung.
蛸壺やはかなき夢を夏の月
tako tsubo ya / hakanaki yume o / natsu no tsuki
Krakenkrüge –
nur flüchtige Träume
unterm Sommermond.
Die Tonkrüge wurden traditionell zum Fangen von Oktopussen verwendet. Ihre Träume könnten die letzten verzweifelten Gedanken der gefangenen Tiere sein, während der Sommermond ungerührt über ihnen scheint. Wie traurig, denn Kraken können wirklich träumen, intelligent genug dazu sind sie allemal.
Bashos Leben wurde sogar schon verfilmt, in der Schweiz. Die Reise des Bashô.

Die Illustrationen stammen von DALL-E, die Übersetzungen von Lenny Löwenstern. Bei der Übertragung der Haiku aus dem Japanischen kamen moderne Werkzeuge zum Einsatz, darunter ChatGPT und Claude. Die Haiku wurden nicht automatisch übersetzt – jede Zeile ist bewusst gestaltet, sorgfältig abgewogen und sprachlich verfeinert. Jedes Haiku wurde individuell bearbeitet, um Wesen und Ausdruck zu bewahren. Dabei spielt meine langjährige dichterische Erfahrung ebenso eine Rolle wie meine Arbeit als Wörtersammler und Schriftsteller.