
Krähen begleiten uns durch das Jahr. Mal als schlauer Geselle, mal als Bote des Unheils – ihr Ruf eilt ihnen voraus. In den Haiku großer Meister taucht die Krähe immer wieder auf. Mal lachend, mal krächzend, mal einsam in der Dämmerung. Sie ist ein Wesen zwischen Licht und Schatten, zwischen Spott und Stille. Schauen wir, was sie uns zuflüstert.
Auf Japanisch heißt sie übrigens Karasu, was gar nicht so fremd wirkt. Die Ähnlichkeit zu unserem Wort könnte mit dem Krächzen der Tiere zu tun haben.
Hier ist eine kleine Auswahl von Haiku, die den großen schwarzen Vogel zum Inhalt haben.
tobinoite
karasu warau ya
yukitsubete
Zur Seite gehüpft –
die Krähe lacht
über den Schneeball.
Kobayashi Issa (1823)
Die Krähe springt zur Seite, als hätte sie den Wurf erahnt. Und dann, so scheint es, lacht sie. Spöttisch womöglich. Natürlich lacht eine Krähe nicht wie ein Mensch. Doch Issa hat ihr genau diesen Ausdruck verliehen – mit einem Augenzwinkern. Es ist diese spielerische Leichtigkeit, die sein Haiku so lebendig macht.
kodomora ya
karasu mo majiru
kuri hiroi
Die Kinder …
und sogar die Krähen machen mit,
beim Kastaniensammeln.
Kobayashi Issa (1825)
Herbst. Kastanien glänzen auf dem Boden, und Kinder sammeln sie ein. Ein Moment kindlicher Freude – und mittendrin die Krähen. Vielleicht schnappen sie sich eine, vielleicht sind sie nur neugierig. Issa zeigt, dass die Welt nicht nur die der Menschen ist. In seinen Versen gibt es keinen Unterschied zwischen Kind und Vogel.
karasu naite
watashi mo hitori
die Krähe krächzt –
auch ich bin
allein
Taneda Santoka
Ein Ruf aus der Ferne. Eine Stimme im leeren Raum. Santokas Haiku steht in dunkler Stille. Die Krähe krächzt – ein einsamer Klang, der nirgends verhallt. Und plötzlich spürt der Mensch, dass er ebenso allein ist. Kein Trost, nur das Echo einer Welt, die weiterzieht.

higoro nikuki
karasu mo yuki no
ashita kana
Wie ich sie hasse –
doch wenn Schnee fällt,
ist sogar die Krähe schön.
Matsuo Basho
Die Krähe ist nicht gerade beliebt. Sie krächzt laut, sie stiehlt, sie wirkt düster, sie macht Angst. Aber dann kommt der Schnee. Er deckt alles mit Stille zu, selbst den Unmut. Plötzlich sieht der Mensch den Vogel mit anderen Augen. Ein schwarzer Punkt im Weiß, ein Zeichen der Vergänglichkeit. Manchmal braucht es nur einen Moment, um etwas zu sehen, das immer da war.
kareeda ni
karasu no tomari keri
aki no kure
Auf dem kahlen Zweig
sitzt eine Krähe –
Herbstdämmer.
Matsuo Basho
Dunkelheit legt sich über das Land. Ein letzter Moment des Tages, in dem alles für einen Atemzug innehält. Die Krähe sitzt auf einem kahlen Ast – ein Bild, das so einfach und doch vollkommen ist. Dieses Haiku ist eines der berühmtesten überhaupt. Jeder kennt es, jeder spürt die Stille, die darin liegt.
warui yume
nomi atari keri
naku karasu
Nur schlechte Träume,
und alle sind eingetroffen –
der Rabe krächzt.
Kobayashi Issa (1821)
Ein persönliches Haiku, womöglich eine Reaktion auf einen Schicksalsschlag oder eine bittere Erfahrung. Man spürt Resignation, aber mit einem leisen, fast ironischen Humor.
doko ka de
atama no naka de
karasu ga naku
irgendwo
in meinem Kopf
kreischt eine Krähe
Taneda Santoka
Ein fast schon brutales Haiku. Santoka quälten seine Dämonen. Manchmal kommt der Lärm nicht von außen. Er sitzt tief in uns. Eine Krähe, die nicht am Himmel fliegt, sondern in Gedanken kreist. Ihr Ruf ist kein Geräusch, sondern eine Unruhe, ein nicht enden wollendes Krächzen im Inneren. Santōka wusste, wie es sich anfühlt, wenn das Schweigen nicht still ist.
Schwarzer Vogel zwischen Licht und Schatten
Die Krähe lacht. Die Krähe krächzt. Sie ist allein, sie ist mittendrin. Sie sitzt auf dem Zweig, sie fliegt durch den Kopf. Mal ist sie ein spielerischer Begleiter, mal ein Bote der Einsamkeit. So wie wir sie sehen wollen, so erscheint sie uns. Mal dunkel, mal schön, mal vertraut. Vielleicht ist sie deshalb in so manchem Haiku zu Gast.

Werkstattbericht
Die Illustrationen auf dieser Seite stammen von DALL-E, die Übersetzungen von Lenny Löwenstern. Bei der Übertragung der Haiku aus dem Japanischen kamen moderne Werkzeuge zum Einsatz, darunter ChatGPT und Claude. Die Haiku wurden nicht automatisch übersetzt – jede Zeile ist bewusst gestaltet, sorgfältig abgewogen und sprachlich verfeinert. Jedes Haiku wurde individuell bearbeitet, um Wesen und Ausdruck zu bewahren. Dabei spielt meine langjährige dichterische Erfahrung ebenso eine Rolle wie meine Arbeit als Wörtersammler und Schriftsteller.