Libellen faszinieren durch ihre erstaunlichen Flugmanöver, ihre schillernden Farben und ihre Fähigkeit, in der Luft zu stehen, zu schweben oder blitzschnell die Richtung zu wechseln.
Die Libelle (Tombô) hat in Japan eine kulturelle Bedeutung. Sie wird als Symbol für Mut, Glück und Erfolg betrachtet, weil sie sich im Flug nicht rückwärts bewegt. Das gilt als Zeichen für Beharrlichkeit.
Im Haiku taucht sie häufig auf, die fliegenden Juwelen mit den großen Augen haben eben auch die alten Japaner seit jeher beeindruckt. Genau diese Faszination spürt man. Dabei werden Libellen nie als gefährlich oder bedrohlich beschrieben. Hier sind 20 staunenswerte Exemplare.
Kobayashi Issa (1763–1828) war ein japanischer Haiku-Dichter der Edo-Zeit, bekannt für seine humorvollen, mitfühlenden und oft tierbezogenen Gedichte. Er brachte in einfacher Sprache die Schönheit und das Leid des Alltags zum Ausdruck und gilt als Stimme der einfachen Menschen. Siehe auch: Haiku mit Schmetterlingen – 20 zauberhafte Kurzgedichte von Issa
.日短かは蜻蛉の身にも有にけり
hi mijika wa tombo no mi ni mo ari ni keri (1806)
Der Tag ist kurz –
so wie das Leben
der Libelle war.
.蜻蛉や二尺飛では又二尺
tombô ya ni shaku tonde wa mata ni shaku (1804)
Die Libelle –
zwei Fuß geflogen,
dann noch mal zwei Fuß.
.赤蜻蛉かれも夕が好じややら
aka tombô kare mo yûbe ga suki ja yara (1810)
Die rote Libelle –
ob sie den Abend
so liebt wie ich?
.夕汐や草葉の末の赤蜻蛉
yû shio ya kusaba no sue no aka tombo
Abendflut –
die Spitzen der Grashalme,
eine rote Libelle.
.とんぼうのはこしているや菊の花
tombô no hako shite iru ya kiku no hana (1811)
Die Libelle
lässt etwas fallen –
auf die Chrysantheme.
.わか竹や盲蜻蛉に遊ばるる
waka take ya mekura tombo ni asobaruru (1813)
Junge Bambushalme –
schwankende Libellen
spielen mit ihnen.
.蜻蛉ににらまれ給ふ仏かな
tombô ni niramare tamau hotoke kana (1813)
Von der Libelle
angestarrt
wird der Buddha!
Issa hatte hier möglicherweise die Interaktion zwischen einer Libelle und einer Buddha-Statue vor Augen. In Japan waren solche Statuen, insbesondere in Dörfern oder Tempeln, allgegenwärtig. Sie wurden oft in der Natur aufgestellt. Eine Libelle, die auf eine solche Statue trifft, wäre eine typische Beobachtung. Diese Szene ist nicht nur visuell reizvoll, sondern auch symbolisch: Die Libelle, ein Sinnbild der Vergänglichkeit und des Wandels, trifft auf den Buddha, der für ewige Ruhe und Gelassenheit steht. Dieses Zusammenspiel von Bewegung und Stille verleiht dem Haiku seine tiefere Bedeutung. Außerdem können Libellen mit ihren riesigen Augen einfach gut starren!
.蜻蛉の尻でなぶるや角田川
tombô no shiri de naburu ya sumida-gawa (1813)
Die Libelle –
mit ihrem Hinterteil
neckt sie den Sumida-Fluss
Der Sumida-Fluss (隅田川, Sumida-gawa) ist einer der bekanntesten Flüsse in Japan und fließt durch Tokio, wo er eine wichtige kulturelle und historische Rolle spielt. Schon in der Edo-Zeit (1603–1868) war er ein beliebter Ort für Dichter, Künstler und die Stadtbewohner, die dort Feste wie das berühmte Sumida-River-Feuerwerk (Sumida-gawa Hanabi Taikai) feierten. Der Fluss ist ein wiederkehrendes Motiv in der japanischen Kunst und Poesie, da er nicht nur das Leben in der Stadt prägte, sondern auch mit einer romantischen und ruhigen Atmosphäre verbunden wurde.
.蜻蛉も起てはたらく夜川哉
tombô mo okite hataraku yo kawa kana (1814)
Auch die Libelle
zieht los, sie arbeitet –
der Nachtfluss!
Dieses Haiku beschreibt die nächtliche Aktivität einer Libelle am Fluss. Das Wort arbeitet mag humorvoll erscheinen, spiegelt aber ihre emsige Bewegung wider. Im kulturellen Kontext könnte der Nachtfluss auch auf das Nachtfischen hinweisen, bei dem Fischer mit Laternen am Fluss arbeiten. Issa lässt solche Verbindungen offen, und das Haiku lädt den Leser dazu ein, die Szene nach eigener Vorstellung zu ergänzen; Issa gibt absichtlich nichts vor.
.大犬の天窓張たる蜻蛉哉
ôinu no atama haritaru tombo kana (1815)
Der alte Hund –
auf seinem Kopf thront
eine Libelle!
.蜻蛉の寝所したるかがし哉
tombô no nedokoro shitaru kagashi kana (1816)
Die Libelle
wählt als Schlafplatz
eine Vogelscheuche!
ばん石にかぢり付たるとんぼ哉
banjaku ni kajiritsuketaru tombo kana
Am Felsblock
hält sie fest –
die Libelle!
我門に煤びた色のとんぼ哉
waga kado ni susubita iro no tombo kana
An meinem Tor –
aschfarben ist sie,
die Libelle.
御祭の赤い出立の蜻蛉哉
o-matsuri no akai dedachi no tombo kana
Das ehrwürdige Fest –
ganz in Rot bricht sie auf,
die Libelle!
Hier wird die Libelle wird wie ein Mensch dargestellt, der sich dem Anlaß entsprechend in Schale wirft.
朝露に食傷したう蜻蛉哉
asa tsuyu ni shokushô shitaru tombo kana
Vom Morgentau
satt und überfressen –
die Libelle!
遠山が目玉にうつるとんぼ哉
tôyama ga medama ni utsuru tombo kana
Ferne Berge –
sie spiegeln sich im Blick
der Libelle.
百尺の竿の頭にとんぼ哉
hyaku shaku no sao no atama ni tombo kana
Hundert Fuß hoch –
auf der Mastspitze thront
die Libelle!
Ein Shaku (尺) ist ein traditionelles japanisches Längenmaß, das etwa 30,3 cm entspricht. Es wurde historisch für Bau- und Handwerksarbeiten genutzt und war bis zur Einführung des metrischen Systems in der Meiji-Zeit gebräuchlich. Heute findet es noch Anwendung in traditionellen Kontexten wie der Kunst, Architektur und bei japanischen Schwertern (Katana).
三ケ月をにらめつめたるとんぼ哉
mikazuki wo nirame tsumetaru tombo kana
Die Mondsichel –
ihr Blick durchbohrt sie,
die Libelle!
蜻蛉やはつたとにらむふじの山
tombô ya hatta to niramu fuji no yama
Die Libelle –
entschlossen starrt sie hinauf
zum Berg Fuji.
Die Libelle erscheint hier fast wie ein Symbol für den unerschütterlichen Willen oder die Beständigkeit. Der stechende Blick der Libelle (typisch für ihre großen Augen) wird humorvoll und poetisch mit dem imposanten Berg Fuji in Beziehung gesetzt. Das Haiku lädt dazu ein, über die Verbindung von Kleinem und Großem nachzudenken – ein wiederkehrendes Thema bei Issa.
.朝寒もはや合点のとんぼ哉
asa-zamu mo haya gatten no tombo kana (1808)
Die Morgenkälte –
das lernt auch
die Libelle!
Die Illustrationen stammen von DALL-E. Bei der Übersetzung aus dem Japanischen kamen moderne Methoden unterstützend zum Einsatz, darunter auch Werkzeuge wie ChatGPT und Claude. Die Haiku wurden keineswegs automatisch übersetzt – jede Zeile wurde bewusst gestaltet, sorgfältig abgewogen und sprachlich verfeinert. Hierbei spielten meine langjährige dichterische Erfahrung sowie meine Arbeit als Wörtersammler, Schriftsteller und Lyriker eine entscheidende Rolle. Ich hoffe, man spürt das.
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