
Taneda Santoka war ein japanischer Dichter und Wandermönch, dessen Haiku vor allem dadurch auffielen, weil er sich wenig um traditionelle Formen oder starre Silbenregeln scherte. Er lebte ein bewegtes Leben (1882–1940), kämpfte mit inneren Dämonen, Alkoholproblemen und chronischer Armut. Schließlich wurde der Zen-Buddhismus zu seinem Zufluchtsort – und Santoka zog fortan als Bettelmönch durch das Land.
Dabei nahm er die Dinge, wie sie eben kamen: ehrlich, manchmal ironisch, oft rau, aber immer authentisch. Santoka war kein typischer Buddhist mit sanfter Seele, sondern eher ein Einzelgänger, der sich dem gesellschaftlichen Druck verweigerte. Arbeiten gehen? Davon hielt er nicht viel – seine große Leidenschaft galt stattdessen dem Haiku, dem Wandern und ganz besonders dem Alkohol.
Genau deshalb ist er heute so spannend für uns. Klar, ein Vorbild im klassischen Sinne war er nicht. Aber er ging unbeirrt seinen eigenen Weg, ließ sich von niemandem vereinnahmen und zeigte damit eine radikale Form von Freiheit. Siehe auch: Genau deshalb ist er heute so spannend für uns. Klar, ein Vorbild im klassischen Sinne war er nicht. Aber er ging unbeirrt seinen eigenen Weg, ließ sich von niemandem vereinnahmen und zeigte damit eine radikale Form von Freiheit. Siehe auch: 15 echte, japanische Haiku über Sake und das Trinken
20 Haiku von Taneda Santoka
Santokas Haiku wirken oft so, als hätte er sie unter grellem Licht verfasst: extrem reduziert, jedes Wort präzise gesetzt und ohne unnötigen Ballast. Das mag zunächst etwas nüchtern erscheinen, doch wenn man genauer hinschaut, erkennt man schnell, wie tiefgründig und sensibel seine Texte eigentlich sind.
銭がない物がない歯がない一人
zeni ga nai mono ga nai ha ga nai hitori
kein Geld
keine Habe
ohne Zähne –
ganz allein
酒はない 月しみじみ観て居り
Sake wa nai tsuki shimijimi mite ori
kein Sake –
versunken betrachte ich
den Mond

ゆふ空から柚子の一つをもらふ
yuzora kara yuzu no hitotsu o mogitoru (1932)
vom Abendhimmel
pflücke ich
eine Yuzu
Die Yuzu ist eine japanische Zitrusfrucht, die etwa so groß wie eine Mandarine ist. Sie hat eine dicke, oft unregelmäßige Schale und einen intensiven Duft, der sie besonders macht. Ihr Geschmack ist eine Mischung aus Zitrone, Mandarine und Grapefruit, dabei säuerlich und aromatisch. In der japanischen Küche wird sie vielseitig verwendet, etwa in Saucen, Desserts oder als Gewürz. Sie gilt als Frischesymbol wie hierzulande die Zitrone.
いちにち物いはず波音
ichinichi mono iwazu nami oto
den ganzen Tag
kein Wort –
nur die Wellen
降るままぬれるままで歩く
furu mama nureru mama de aruku
es regnet,
ich werde nass –
ich gehe
Dieses Haiku verkörpert Santokas radikale Akzeptanz des Lebens und seine einfache, direkte Sprache. Es ist eine Quintessenz seiner Philosophie: Das Leben hinnehmen, wie es ist.

雪ふる一人一人ゆく
yuki furu hitori hitori yuku (1933)
Schnee fällt
jeder geht
allein
雪へ雪ふるしづけさにをる
yuki e yuki furu shizukesa ni oru (1933)
Schnee fällt auf Schnee –
in der Stille
bin ich
酔うてこほろぎと寝てゐたよ
yote korogi to nete ita yo (1930)
betrunken
schlief ich
mit den Grillen
酔いざめの風のかなしく吹きぬける
yoi zame no kaze no kanashi-ku fuki nukeru
Ernüchterung –
ein trauriger Wind
weht durch mich hindurch

秋風あるいてもあるいても
aki kaze aruite mo aruite mo (1939)
Herbstwind –
ich gehe
und gehe
月が昇つて何を待つでもなく
tsuki ga nobotte nani o matsu demo naku
der Mond steigt auf –
ich erwarte
nichts
「ふと子のことを百舌鳥が啼く」
futo kono koto wo mozu ga naku
plötzlich
Gedanken an meinen Sohn –
der Ruf des Neuntöters
Der Neuntöter ist ein kleiner Singvogel aus der Familie der Würger. Er ist in Europa, Asien und Afrika verbreitet und bekannt für sein auffälliges Verhalten: Der Neuntöter spießt seine Beute – meist Insekten, manchmal auch kleine Reptilien oder Vögel – auf Dornen oder spitze Äste. Dieses Verhalten dient ihm als Vorratskammer und gibt ihm seinen Namen, da man früher fälschlicherweise glaubte, er töte erst neun Tiere, bevor er sie frisst. Im Kontext des Haikus wird der Neuntöter mit seiner Stimme zu einem Sinnbild für plötzliche Erinnerungen und die Verbindung zwischen Natur und menschlichen Emotionen.
泊めてくれない折からの月が行手に
tomete kurenai orikara no tsuki ga yukute ni
kein Dach für die Nacht –
der Mond
zeigt mir den Weg
鉄鉢の中へも霰
teppatsu no naka e mo arare (1932)
sogar in meine
Bettelschale prasselt
der Hagel
Die Bettelschale (Teppatsu) in diesem Haiku ist traditionell aus Metall, meist aus Eisen. Der Begriff 鉄 (Eisen) im Kanji zeigt das bereits an. Sie war ein unverzichtbares Utensil für wandernde buddhistische Mönche, die damit Almosen sammelten. Hagelkörner dürften Lärm verursachen. Wenn Hagel auf eine Eisenschale prallt, entsteht ein lauter, beinahe rhythmischer Klang – fast wie ein improvisiertes Musikinstrument, das von der Natur gespielt wird. Diese Interpretation bringt eine neue Dimension in das Haiku: Der Moment wird akustisch intensiv und fast greifbar.

生死の中の雪ふりしきる
seishi no naka no yuki furishikiru
zwischen Leben und Tod
fällt Schnee –
unaufhörlich
天の川ま夜中の酔ひどれは踊る
ama no kawa mayonaka no yoidore wa odoru
Die Milchstraße –
um Mitternacht tanzt
ein Säufer
笠へぽたりぽたりとしぐれかな」
kasa e potari potari to shigure kana
auf meinen Hut
tropft und tropft es –
Winterregen
Dieses Haiku zeigt eine meisterhafte Reduktion. Das Tropfen des Regens wird zu einem Symbol für Einsamkeit, Bewegung und das wandernde Leben.
雨だれの音も年とつた
amadare no oto mo toshi totta
selbst der Klang
der Regentropfen
ist alt geworden
死ぬよりほかない山がかすんでゐる
shinu yori hoka nai yama ga kasunde iru (1933)
nichts als sterben –
der Berg
verschwimmt im Nebel

Werkstattbericht
Die Illustrationen auf dieser Seite stammen von DALL-E, die Übersetzungen von Lenny Löwenstern. Bei der Übertragung der Haiku aus dem Japanischen kamen moderne Werkzeuge zum Einsatz, darunter ChatGPT und Claude. Die Haiku wurden nicht automatisch übersetzt – jede Zeile ist bewusst gestaltet, sorgfältig abgewogen und sprachlich verfeinert. Jedes Haiku wurde individuell bearbeitet, um Wesen und Ausdruck zu bewahren. Dabei spielt meine langjährige dichterische Erfahrung ebenso eine Rolle wie meine Arbeit als Wörtersammler und Schriftsteller.