Wenn im Frühling die Natur die Welt neu erfindet, ist zumindest in Japan das Haiku nicht weit. Das galt insbesondere in alten Zeiten, in denen sich mit dem Frühling unzählige Hoffnungen verknüpfen und die Erleichterung über das Ende des Winter sich Bahn brach. Das spürt man noch heute in den Zeilen der alten Meister, deren Verse so frisch wirken wie eh und je. Hier habe ich 20 Haiku bekannter japanischer Dichter versammelt.
Der Duft der Dunkelheit,
als ich ihn pflückte, war er weiß.
Pflaumenblütenzweig
Yokoi Yayu (1702–1783)
Yayū stammte aus einer Samurai-Familie und diente zunächst als Offizier, bevor er sich der Literatur zuwandte. Seine Werke zeichneten sich oft durch eine spielerische und zugleich tiefgründige Auseinandersetzung mit traditionellen Themen und Formen aus. Er war Teil der Danrin-Schule, die sich durch eine lockerere und weniger strenge Herangehensweise an die Poesie auszeichnete.
Was ist Hanami?
Das Geräusch des Windes
nach Sonnenaufgang.
Yokoi Yayū
Hanami ist die japanische Tradition, das Blühen der Kirschblüten (Sakura) im Frühling durch Picknicks und Versammlungen in Parks zu feiern.
Der Himmel ist klar,
der Ackerboden ist naß.
Erste Feldarbeit.
Masaoka Shiki
Der Wind im Frühling.
Zwischen den Bäumen leuchtet
ein roter Tempel.
Masaoka Shiki
Die Wildgänse sind heimgekehrt,
alles ist still
in der dunklen Nacht.
Murakami Kijō (1865–1938)
Kijō wurde in eine wohlhabende Familie geboren, die ihm eine gute Bildung ermöglichte. Er studierte zunächst in Tokio und entwickelte früh ein Interesse an der Literatur, insbesondere an der traditionellen japanischen Dichtkunst. Sein Stil ist geprägt von einer klaren, einfachen Sprache, die gleichzeitig tiefgehende Emotionen und komplexe Stimmungen ausdrückt.
Über den Feldern,
von allen Dingen gelöst,
singt die Lerche.
Matsuo Basho
Am Fluss des Tores
spiegelt sich der Duft des Mondes –
Blüten der Pflaume.
Enomoto Seifu (1732–1816)
Seifu war eine Haiku-Dichterin aus der Edo-Zeit, die für ihre eleganten und oft melancholischen Gedichte bekannt war. Sie war Teil einer literarischen Familie und genoss als Dichterin hohes Ansehen. Ihre Werke behandeln oft Themen wie die Vergänglichkeit des Lebens und die Schönheit der Natur.
Sogar mein Schatten
Ist munter und kerngesund
Am Frühlingsmorgen!
Kobayashi Issa
Ob Pflaumen blühten,
Ob Nachtigallen schlugen
Allein war ich doch.
Kobayashi Issa
Der Duft der Pflaume,
Wenn ich das Fenster öffne
In heller Mondnacht.
Kobayashi Issa
Von Blüten betört,
vergesse ich den Bergpfad
und esse Beifußkuchen.
Nishiyama Sōin (1605–1682)
Dieses Haiku spielt mit der Idee, sich im Frühling in den Anblick der Blüten zu verlieren und dabei sogar den eigenen Weg zu vergessen.
Im Duft der Pflaumen
geht die Sonne auf
auf dem Bergpfad.
Yamazaki Sōkan (1465–1553)
Sōkan, der als Vorläufer der Teitoku-Schule gilt, beschreibt hier den Duft der blühenden Pflaumen, der den Aufgang der Sonne auf einem Bergpfad begleitet. Dieses Haiku verbindet den Duft des Frühlings mit dem Beginn eines neuen Tages.
Kirschblüten erblühen –
auf den blühenden Zweigen
der Ruf der Vögel.
Kitamura Kigin (1624–1705)
Kigin beschreibt den Frühling, indem er das Bild der blühenden Kirschbäume mit dem Gesang der Vögel verbindet, was die Lebendigkeit und Erneuerung dieser Jahreszeit symbolisiert.
Frühlingsfeld –
in zartem Violett
liegt der Nebel.
Yamazaki Sōkan
Im Dorf am Berge
ein später Jubelruf noch:
Die Pflaumenblüte!
Matsuo Basho
Weiße Blüten —
der Frühling, und alte Träume
werden kalt.
Ozaki Hosai (1885-1926)
Hōsai, mit bürgerlichem Namen Ozaki Hideo, wurde in eine wohlhabende Familie in der Präfektur Tottori geboren. Er genoss eine gute Ausbildung und begann eine Karriere als Büroangestellter. Trotz seines erfolgreichen beruflichen Werdegangs und seiner guten gesellschaftlichen Position hatte Hōsai ein schwieriges Leben, das von Alkoholismus und psychischen Problemen geprägt war. Diese Schwierigkeiten führten schließlich dazu, dass er seinen Job verlor und ein wanderndes, unstetes Leben führte.
Der fünfstöckige Turm —
nur die fünfte Etage
verschwindet im Nebel.
Natsume Sōseki
Natsume Sōseki (1867–1916) ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Japans und gilt als einer der Väter der modernen japanischen Literatur. Seine Werke, die tiefgründige Einblicke in die japanische Gesellschaft und die menschliche Natur bieten, haben einen bleibenden Einfluss auf die japanische Literatur und Kultur hinterlassen. Natsume Sōseki hinterließ ein bedeutendes literarisches Erbe, das weit über seine Lebenszeit hinausreicht. Er wird oft als einer der größten Schriftsteller Japans bezeichnet, und seine Werke sind bis heute Pflichtlektüre in japanischen Schulen. Sein Bild war sogar von 1984 bis 2004 auf dem japanischen 1.000-Yen-Schein abgebildet.
Die erste Schmetterlinge —
keine Rapsblüten da,
wie traurig es wohl ist.
Natsume Sōseki
Der Schnee schmilzt . . .
und das Dorf ist voller
Kinder.
Kobayashi Issa
Die Frühlingsnacht endet,
und die Kirschblüten leuchten
im Morgengrauen.
Matsuo Basho