Herbstgedichte nehmen in der deutschen Literatur einen besonderen Platz ein. In ihnen spiegelt sich die tiefe Verbundenheit der Dichter mit der Natur und dem Wechsel der Jahreszeiten wider.
Klassischerweise kreisen die meisten Werke um die überall sichtbaren Veränderungen in der Umgebung. Das Farbenspiel der fallenden Blätter, die sich in Gelb-, Rot- und Brauntöne kleiden, sowie die zunehmend nebligen und kürzeren Tage prägen die Bilder. Die reifenden Früchte und die Ernte symbolisieren Fülle und Vergänglichkeit zugleich. Häufig schwingt eine melancholische Grundstimmung mit.
Der Herbst dient vielen Dichtern als Metapher für den Lebensabend oder als Symbol für Übergangsphasen im Leben. Viele Herbstgedichte thematisieren den ewigen Kreislauf der Natur, den Abschied vom Sommer und die Vorbereitung auf den nahenden Winter. Der Leser soll innehalten und über die eigene Stellung im Fluss der Zeit nachdenken, während die Natur sich auf ihre jährliche Ruhephase vorbereitet und tut, was sie immer tut. Siehe auch: 10 der schönsten und berühmtesten Liebesgedichte ins Bild gesetzt | 10 berühmte klassische Gedichte ins Bild gesetzt
Hier also sind 10 typische, weithin bekannte und klassische Exemplare deutschsprachiger Herbstdichtung. Hier findest du herbstliche Stimmung satt.
Herbstgedichte Inhaltsverzeichnis
Septembermorgen / Eduard Mörike
Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.
In gerade einmal sechs Zeilen malt Mörike ein atmosphärisches Bild des Übergangs von der nebelverhangenen Morgendämmerung zum goldenen Herbsttag. Mit seiner prägnanten Sprache und den stimmungsvollen Naturbildern ist das Gedicht ein Paradebeispiel der deutschen Naturlyrik des 19. Jahrhunderts.
November / Heinrich Seidel
Solchen Monat muss man loben:
Keiner kann wie dieser toben,
Keiner so verdriesslich sein
Und so ohne Sonnenschein!Keiner so in Wolken maulen,
Keiner so mit Sturmwind graulen!
Und wie nass er alles macht!
Ja, es ist 'ne wahre Pracht.Seht das schöne Schlackerwetter!
Und die armen welken Blätter,
Wie sie tanzen in dem Wind
Und so ganz verloren sind!Wie der Sturm sie jagt und zwirbelt
Und sie durcheinanderwirbelt
Und sie hetzt ohn' Unterlass:
Ja, das ist Novemberspass!Und die Scheiben, wie sie rinnen!
Und die Wolken, wie sie spinnen
Ihren feuchten Himmelsthau
Ur und ewig, trüb und grau!Auf dem Dach die Regentropfen:
Wie sie pochen, wie sie klopfen!
Schimmernd hängt's an jedem Zweig,
Einer dicken Thräne gleich.O, wie ist der Mann zu loben,
Der solch' unvernünft'ges Toben
Schon im Voraus hat bedacht
Und die Häuser hohl gemacht!So, dass wir im Trocknen hausen
Und mit stillvergnügtem Grausen
Und in wohlgeborgner Ruh
Solchem Greuel schauen zu!
Das humorvolle Gedicht nimmt den unbeliebten November aufs Korn. Mit einer Mischung aus Ironie und detailreicher Beobachtung schildert Seidel die typischen Merkmale dieses Herbstmonats: Regen, Sturm, fallende Blätter und trübes Wetter. Der spielerische Ton und die lebendigen Beschreibungen machen das Gedicht zu einer angenehmen Lektüre, die den Leser trotz des düsteren Themas zum Schmunzeln bringt.
Herbsttag / Rainer Maria Rilke
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Das Gedicht spiegelt die typische Herbststimmung wider, eine Mischung aus Fülle und Vergänglichkeit, Abschied und Vorbereitung auf die kommende kältere Jahreszeit. Es zeigt auch, wie der Herbst oft als Metapher für Lebensphasen und menschliche Erfahrungen genutzt wird. Neue Gedichte von Rainer Maria Rilke beim Projekt Gutenberg. Mehr von Rainer-Maria Rilke: 10 seiner bedeutendsten Gedichte in Text & Bild
Oktoberlied / Theodor Storm
Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!Und wimmert auch einmal das Herz -
Stoß an und lass es klingen!
Wir wissen's doch, ein rechtes Herz
Ist gar nicht umzubringen.Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!Wohl ist es Herbst; doch warte nur,
Doch warte nur ein Weilchen!
Der Frühling kommt, der Himmel lacht,
Es steht die Welt in Veilchen.Die blauen Tage brechen an,
Und ehe sie verfließen,
Wir wollen sie, mein wackrer Freund,
Genießen, ja genießen!
Storms Gedicht vermittelt eine Mischung aus Melancholie und Lebensfreude, die oft mit dem Herbst in Verbindung gebracht wird. Es fängt viele typische Herbstgefühle ein, insbesondere eine gewisse Wehmut über das Ende des Sommers, aber auch die Freude an den besonderen Qualitäten des Herbstes und eine zuversichtliche Haltung trotz der dunkleren Jahreszeit.
Ich sah den Herbst sich färben / Emanuel Geibel
Ich sah den Wald sich färben,
Die Luft war grau und stumm;
Mir war betrübt zum Sterben,
Und wusst’ es kaum, warum.Durchs Feld vom Herbstgestäude
Hertrieb das dürre Laub;
Da dacht’ ich: Deine Freude
Ward so des Windes Raub.Dein Lenz, der blütenvolle,
Dein reicher Sommer schwand;
An die gefrorne Scholle
Bist du nun festgebannt.Da plötzlich floss ein klares
Getön in Lüften hoch:
Ein Wandervogel war es,
Der nach dem Süden zog.Ach, wie der Schlag der Schwingen,
Das Lied ins Ohr mir kam,
Fühlt ich’s wie Trost mir dringen
Zum Herzen wundersam.Es mahnt’ aus heller Kehle
Mich ja der flücht’ge Gast:
Vergiss, o Menschenseele,
Nicht, dass du Flügel hast!
Auch Geibel fängt die Dualität des Herbstes ein, der sowohl Melancholie als auch Trost in sich trägt. Seine Bilder erinnern an den Verlust von Freude und die vergangene Blütezeit. Doch plötzlich bringt der Gesang eines nach Süden ziehenden Vogels unerwarteten Trost, der die düstere Stimmung aufhellt und Hoffnung auf neue, kommende Zeiten weckt. Emanuel Geibels Gedichte beim Projekt Gutenberg
Herbst / Joseph von Eichendorff
Es ist nun der Herbst gekommen,
Hat das schöne Sommerkleid
Von den Feldern weggenommen
Und die Blätter ausgestreut,
Vor dem bösen Winterwinde
Deckt er warm und sachte zu
Mit dem bunten Laub die Gründe,
Die schon müde gehn zur Ruh.Durch die Felder sieht man fahren
Eine wunderschöne Frau,
Und von ihren langen Haaren
Goldne Fäden auf der Au
Spinnet sie und singt im Gehen:
Eia, meine Blümelein,
Nicht nach andern immer sehen,
Eia, schlafet, schlafet ein.Und die Vöglein hoch in Lüften
Über blaue Berg und Seen
Ziehn zur Ferne nach den Klüften,
Wo die hohen Zedern stehn,
Wo mit ihren goldnen Schwingen
Auf des Benedeiten Gruft
Engel Hosianna singen
Nächtens durch die stille Luft.
Eichendorffs Personifikation des Herbstes betont den natürlichen Zyklus von Wachstum und Vergehen und die Harmonie in der Natur. Als Vertreter der Romantik zeigt er die Natur, um die Melancholie und den Trost des Jahreszeitenwechsels widerzuspiegeln.
Der Herbst / Georg Heym
Viele Drachen stehen in dem Winde,
Tanzend in der weiten Lüfte Reich.
Kinder stehn im Feld in dünnen Kleidern,
Sommersprossig, und mit Stirnen bleich.In dem Meer der goldnen Stoppeln segeln
Kleine Schiffe, weiß und leicht erbaut,
Und in Träumen seiner leichten Weite
Sinkt der Himmel wolkenüberblaut.Weit gerückt in unbewegter Ruhe
Steht der Wald wie eine rote Stadt.
Und des Herbstes goldne Flaggen hängen
Von den höchsten Türmen schwer und matt.
Die erste Strophe wird von Microsoft heftig zensiert, ich musste sie umschreiben und argloser machen. Dafür haben wir einem hübschen Vintage-Effekt bekommen. Heyms Gedicht fängt die Stimmung des Herbstes mit einer Mischung aus Lebendigkeit und melancholischer Ruhe ein. Heym gelingt es, die stillen Kontraste des Herbstes in eindrucksvolle, fast malerische Bilder zu fassen, die sowohl die Schönheit als auch die unaufhaltsame Vergänglichkeit der Jahreszeit betonen.
Herbsttag / Friedrich Hebbel
Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält,
Denn heute löst sich von den Zweigen nur,
Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.
Hebbel erfasst prägnant die Essenz eines vollkommenen Herbsttages. In acht Zeilen malt er ein Bild stiller Luft und fallender Früchte, das alle Sinne anspricht. Er personifiziert die Natur, verleiht dem Moment heilige Würde und betont die Schönheit des natürlichen Kreislaufs. Das Gedicht vermittelt meisterhaft ein Gefühl von Reife, Fülle und gelassener Akzeptanz des herbstlichen Wandels.
Der Herbst des Einsamen / Georg Trakl
Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle.
Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
Ein reines Blau tritt aus verfallner Hülle;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
Gekeltert ist der Wein, die milde Stille
Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;
Im roten Wald verliert sich eine Herde.
Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;
Es ruht des Landmanns ruhige Gebärde.
Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel
Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;
In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden
Und Engel treten leise aus den blauen
Augen der Liebenden, die sanfter leiden.
Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,
Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.
Trakls expressionistische Sprache verleiht dem herbstlichen Wandel eine beinahe mystische Dimension. Trakl nutzt kraftvolle Farbkontraste und synästhetische Eindrücke, um eine dichte, symbolgeladene Atmosphäre zu schaffen. Das Gedicht oszilliert zwischen konkreten Naturbeobachtungen und abstrakten, fast surrealen Bildern, die existenzielle Fragen aufwerfen. Es vermittelt eine Stimmung von Einsamkeit und sanftem Leiden, durchzogen von flüchtigen Momenten der Schönheit und des Trostes.
Herbst ist es wieder / Hoffmann von Fallersleben
Herbst ist es wieder, gelbe Blätter fallen,
Die Schwalbe mit dem Storch gen Süden zieht,
Und nur des Kranichs Abschiedslieder schallen,
Und durch die Stoppeln singt der Wind sein Lied.
Der Nebel hüllet ein des Tages Sonne,
Hin ist des Sommers lichte Freud‘ und Wonne.Wie könnten wir doch solche Zeit ertragen!
Die Hoffnung tröstet uns in unserm Leid.
Es kommt nach diesen stillen trüben Tagen
Die lichte freudenreiche Sommerzeit.
Sie bringt uns Sonnenwärme, Blumen, Lieder,
Sie bringt uns unsers Herzens Wonne wieder.
Hier spiegelt der Herbst den unvermeidlichen Abschied und die Melancholie wider, die mit dem Ende des Sommers und des Lebenszyklus verbunden sind. Die Darstellung ist symbolisch zu verstehen: Der Sommer steht für die Rückkehr von Freude und Lebenslust, die der Dunkelheit und Traurigkeit des Herbstes folgen.