Sterne (Hoshi) erscheinen im klassischen Haiku weit weniger häufig als der Mond, was ihrer Schönheit allerdings nicht abträglich ist. Sterne werden eher als leise, begleitende Details beschrieben oder miterwähnt, nicht als zentrales Motiv. Dennoch gibt es auch Sternhaiku. Einige davon habe ich hier gesammelt und übersetzt.
nesobette funzori kaette hoshi mukae
Bequem hingestreckt.
Faul und zufrieden
die Sterne begrüßen!
Kobayshi Issa, 1803
hoshi sude ni aki no manako wo hirakikeri
Die Sterne haben
ihre Herbstaugen
bereits geöffnet.
Ozaki Koyo
yuki tokete ureshisô nari hoshi no kao
Der Schnee schmilzt,
und das Antlitz der Sterne
scheint glücklich.
Kobayashi Issa, 1803
hoshi hitotsu miete nerarenu shimo yo kana.
Ein einziger Stern
lässt mich wach liegen in der
frostigen Nacht, ach.
Soseki Natsume, 1895
higurashi ya tsui-tsui hoshi no deru yô ni
Abendzikaden –
da und da!
die Sterne erscheinen.
Kobayshi Issa, 1815
Haiku sind wie Atempausen im Alltag: Sie laden dich ein, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Sie vereinen Authentizität, Leichtigkeit und die zeitlose Schönheit von Momentaufnahmen in drei Zeilen. Haiku Einführung
nebu no ki no hagoshi mo itoe hoshi no kage
der Schlafbaum –
selbst das Sternenlicht
scheuen seine Blätter.
Matsuo Basho
Die Seidenakazie wird auch Schlafbaum genannt, da ihre feinen, gefiederten Blätter sich nachts zusammenfalten. Sie symbolisiert Ruhe und Vergänglichkeit und wird oft in der japanischen Poesie thematisiert. Basho beschreibt ihre Blätter, die selbst das Sternenlicht zu scheuen scheinen, als einren Ausdruck zartester Zurückhaltung.
kesa mo yoi-hi no hoshi hitotsu
Heute Morgen
wieder ein guter Tag –
ein Stern bleibt sichtbar.
Taneda Santoka
yoizame no hoshi ga matataite iru
Verkatert erwacht –
Sterne flimmern.
Als Bettelmönch könnte Santoka im Freien erwacht sein, früh am Morgen. Er brach oft mit Konventionen und fokussierte sich auf das Wesentliche. Ein zweizeiliges Haiku kann also durchaus seinem Geist entsprechen. Sie bewahrt die Essenz und Direktheit des Moments. Es sind nur vier Wörter, da ergeben drei Zeilen für mich keinen Sinn.
Kangetsu ya kareki no ue no hitotsu hoshi
Frostmond –
über einem kahlen Baum
ein einzelner Stern.
Masaoka Shiki
Auch hier: Durch den Verzicht auf unnötige Wörter und strenge Klarheit der Bilder versuche ich die Essenz von Shikis oftmals kargem Stil einzufangen.
hi wo kaseba suzushiki hoshi ya mado ni iru.
Wenn das Licht erlischt,
treten die kalten Sterne
durch das Fenster ein.
Soseki Natsume, 1911
Damasareshi hoshi no hikari ya sayo shigure
In die Irre geführt
vom Sternenlicht –
Winterregenschauer.
Uko. Geboren 1716 war Uko mit Bashos Freund und Arzt Boncho verheiratet.
yasumeta ni hoshi utsuru yo no atatakasa.
In brachen Reisfeldern
spiegeln sich Sterne –
die Wärme der Nacht.
Ozaki Hosai
hoshizukiyo sora no hirosa yo Okisa yo
Mondsternnacht –
des Himmels Weite
und Größe.
Shohaku
Shohakus (1443 – 1527) Vers ist zu alt, um ein Haiku zu sein. Es ist ein Hokku, erfüllt als solches aber schon alle formalen Elemente des Haiku. Heute wird es als Vorläufer oder Inspiration für das Haiku gesheen. Sie sind schließlich Teil der gleichen poetischen Tradition.
Die Illustrationen stammen von DALL-E. Bei der Übersetzung der Haiku aus dem Japanischen kamen moderne Werkzeuge zum Einsatz, darunter ChatGPT und Claude. Die Haiku wurden aber keineswegs automatisch übersetzt – jede Zeile ist bewusst gestaltet, wurde sorgfältig abgewogen und sprachlich verfeinert. Jedes Haiku wurde individuell übertragen, um sein Wesen zu bewahren. Dabei spielt meine langjährige dichterische Erfahrung ebenso eine Rolle wie meine Arbeit als Wörtersammler und Schriftsteller.