Ryokan verband tiefe Spiritualität mit Einfachheit und zeitlose kindlicher Freude. Er schrieb Gedichte in japanischer und chinesischer Sprache, die oft Natur und Zen-Themen behandeln. Seine Werke spiegeln eine schlichte, aber tiefgründige Perspektive auf das Leben wider, die bis heute bewundert wird. Die Welt ist eben (auch) nur eine Kirschblüte. Hier ist eine Auswahl seiner besten Gedichte.
Diese Haiku öffnen eine Tür zu Einsamkeit, Sehnsucht und der leisen Schönheit des Vergänglichen. Wer will, mag innehalten und im einfachen Moment Trost und Verbundenheit finden – ein stiller Gegenpol zur Hektik des modernen Lebens.
Ryokan Taigu (1758–1831) war ein japanischer Zen-Mönch, Dichter und Kalligraph, der für seine Einfachheit und seine Nähe zur Natur bekannt war. Er lebte zurückgezogen und wurde für seine unkonventionelle, freigeistige Lebensweise geschätzt.
Ryokans Werk ist überschaubar, hat aber bis heute Eindruck hinterlassen. Die Übersetzungen sind von mir (siehe Hinweis unten), die illustrativen Collagen stammen von DALL-E.
同じくばはなのもとにて一とよねむ
onajiku ba / hana no moto nite / hitoyo nen
Wenn ich wählen dürfte …
unter Kirschblüten schlafen –
nur für eine Nacht.
ゆふせむとくさのまくらに留守のあむ
yuzen to / kusa no makura ni / rusu no an
Im Abend verweilen,
auf einem Kissen aus Gras –
fernab von Zuhaus.
Im Original ist von einer Hütte die Rede, die Ryokans Zuhause war.
あけ窓のむかしをしのぶすぐれ夢
ake mado no / mukashi o shinobu / sugure yume
Offenes Fenster,
die Vergangenheit kehrt zurück –
besser als ein Traum.
あきかぜに独り立ちたる姿かな
秋風にひとり立ちたる姿かな
aki kaze ni / hitori dachitaru / sugata kana
Im Herbstwind,
allein dastehend –
eine einsame Erscheinung.
Hier werden wir mit einem Bild konfrontiert, das gleichzeitig konkret und offen bleibt. Die „einsame Erscheinung“ im Herbstwind könnte Ryokan selbst meinen, der oft seine eigene Einsamkeit und Besinnung in der Natur thematisiert. Ebenso könnte es sich aber um eine Beobachtung handeln – vielleicht ein Baum, eine Pflanze oder eine Person, die im Wind steht. Diese Offenheit ist typisch für Ryokans Poesie: Er lädt uns ein, eigene Assoziationen zu entwickeln, anstatt eine festgelegte Bedeutung vorzuschreiben. Die Melancholie des Herbstwindes und die stille, unbewegte Gestalt schaffen ein Gefühl von Vergänglichkeit und Kontemplation, das sowohl persönlich als auch universell empfunden werden kann.
はるさめや静かになでるやれふくへ
harusame ya / shizukani naderu / yarefukube
Der Frühlingsregen,
sanft streichelt er
die alte Kürbisflasche.
Die Kürbisflasche (やれふくべ, yarefukube) ist ein traditionelles Gefäß aus einem getrockneten, ausgehöhlten Kürbis. Solche Flaschen wurden in Japan seit Jahrhunderten verwendet, vor allem im ländlichen Leben, wo Einfachheit und natürliche Materialien geschätzt wurden. Sie symbolisiert oft Vergänglichkeit und Bescheidenheit – Qualitäten, die in der Zen-Philosophie und in Ryōkans Poesie eine zentrale Rolle spielen. Im Gedicht liegt die alte Flasche draußen, dem sanften Frühlingsregen ausgesetzt, was das Zusammenspiel von Natur und Mensch sowie die stille Schönheit alltäglicher Dinge betont.
火貰ひに橋越へてゆく小夜時雨
hi morai ni / hashi koete yuku / sayo shigure
Feuer holen,
die Brücke überschreiten –
Herbstregen in der Dämmerung.
稲舟やさし行方や三日の月
inabune ya / sashiyuku kata ya / mikka no tsuki
Das Reisboot –
es nimmt Kurs
auf dem Sichelmond.
Das Reisboot (稲舟, inabune) war in Japan ein kleines, einfaches Transportboot, das traditionell zum Verladen und Transport von Reis genutzt wurde, insbesondere entlang von Flüssen und Kanälen. Es symbolisiert ländliches Leben, Einfachheit und harte Arbeit, aber auch den Fluss des Lebens und die Vergänglichkeit – Themen, die in der japanischen Poesie oft mitschwingen. Hier wird das Reisboot zu einem poetischen Bild: Es ist nicht nur ein praktisches Werkzeug, sondern ein Symbol für Bewegung, Zielgerichtetheit und vielleicht auch für die Reise des Lebens selbst. Die Kombination mit dem Sichelmond verleiht der Szene eine zarte, fast kosmische Dimension.
柿もぎの金玉寒し秋の風
kakimogi no / kintama samushi / aki no kaze
Kaki pflücken –
eiskalte Kleinodien
im Herbstwind.
Die eiskalten Kleinodien bewahren die Doppeldeutigkeit des Gedichts. Denn einerseits können damit die glänzenden Kakis gemeint sein, andererseits deutet es auf eine humorvolle, körperliche Interpretation hin, nämlich die Hoden des dichtenden Mönchs, die er bei der Ernte dem Wetter aussetzen musste.
のっぽりと師走も知らず弥彦山
noppori to / shiwasu mo shirazu / Yahiko yama
Still und unbewegt,
vom Dezember weiß er nichts –
der Yahiko-Berg.
Der Dezember, in Japan Shiwasu genannt, gilt genau wie bei uns als hektisch, da es traditionell die Zeit der Jahresendvorbereitungen ist – mit Festen, Reinigungen und Abschlüssen. Im Gegensatz dazu steht der Yahiko-Berg, ein heiliger und ruhiger Ort in der Präfektur Niigata, der für seine spirituelle Bedeutung und seine Gelassenheit bekannt ist.
ぬす人に取り殘されし窓の月
nusubito ni / tori nokosareshi / mado no tsuki
Ein Dieb greift zu,
Im Fenster bleibt zurück –
der Mond.
Das Gedicht spielt mit dem Gegensatz zwischen dem Materiellen und dem Unantastbaren. Der Dieb kann physische Dinge rauben, doch der Mond, der durch das Fenster scheint, bleibt unberührt. Ryokan betont damit die Unvergänglichkeit und Schönheit der Natur, die über die menschliche Gier hinausgeht. Es ist ein Bild von Verlust und Trost zugleich, typisch für seine poetische Reflexion.
ゆめさめて聞くは蛙の遠音かな
夢覚めて聞けば蛙の遠音かな
yume samete / kiku wa kawazu no / tōne kana
Aus dem Traum erwacht,
ich höre Frösche –
entfernter Klang!
世の中はさくらの花になりけり
yo no naka wa / sakura no hana / ni nari keri
Die Welt
wird zur Kirschblüte –
oh ja!
散る桜残る桜も散る桜
chiru sakura / nokoru sakura mo / chiru sakura
Fallende Kirschblüten –
auch die übrigen sind
fallende Kirschblüten.
Das Gedicht reflektiert die unvermeidliche Vergänglichkeit aller Dinge. Es zeigt, dass selbst die, die noch bleiben, bald fallen werden, und erinnert daran, wie flüchtig Schönheit und Leben sind. Die Wiederholung von verstärkt die Unausweichlichkeit dieses Zyklus.
ura o mise / omote o misete / chiru momiji
Ihre Rückseiten zeigen sie,
dann ihre Vorderseiten –
fallende Ahornblätter.
あめのふる日はあはれなり良寛坊
ame no furu / hi wa aware nari / Ryōkan bo
Regen fällt,
wie ergriffen er ist –
der Mönch Ryokan.
Die Illustrationen stammen von DALL-E. Bei der Übersetzung aus dem Japanischen kamen moderne Werkzeuge zum Einsatz, darunter ChatGPT und Claude. Die Haiku wurden aber keineswegs automatisch übersetzt – jede Zeile ist bewusst gestaltet, wurde sorgfältig abgewogen und sprachlich verfeinert. Jedes Haiku wurde individuell übertragen, um sein Wesen zu bewahren. Dabei spielt meine langjährige dichterische Erfahrung ebenso eine Rolle wie meine Arbeit als Wörtersammler und Schriftsteller.